In Deutschland gibt es bisher keine offiziellen Daten oder Schätzungen dazu, wie stark geflüchtete Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die heute veröffentlichte Studie stützt sich daher auf Interviews mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Sozialpädagogik, Psychotherapie und Sozialforschung, die ihr Fachwissen anonymisiert weitergeben. „Wir blicken in ein großes Dunkelfeld“, sagt die Forschungsleiterin Dr. Caterina Rohde-Abuba. „Das Thema ist stark tabu-behaftet und die Öffentlichkeit erfährt meist nur von dramatischen Einzelfällen. Dies tragt dazu bei, dass Präventions- und Hilfsangebote gerade für die Lebenssituation flüchtender Kinder fehlen, obwohl dort mehrere Risikofaktoren zusammenkommen.“
Aktuell sorgt sich World Vision auch um die Sicherheit ukrainischer Kinder und Mütter, die bei ihrer Flucht oft kaum etwas mitnehmen können und vielfach schutzlos von Ort zu Ort ziehen oder in Sammelunterkünften oder auch bei ihnen unbekannten Gastgebern wohnen.
Stereotype beiseite: auch Jungen und Kinder mit LGBTIQ-Identitäten betroffen
Der World Vision-Studie zufolge haben viele Kinder aus Kriegs- und Konfliktgebieten bereits sexualisierte Gewalt erlitten, wenn sie in Deutschland eintreffen. Manche Transitländer sind für flüchtende Kinder besonders gefährlich, etwa Libyen und die Türkei, aber auch einige osteuropäische Länder. Auch Jungen sind unter diesen Umständen in hohem Maß betroffen. „Je länger eine Flucht dauert und desto schlechter die Kinder unterwegs versorgt sind, desto eher geraten Mädchen und Jungen in gefährliche Abhängigkeiten“, erläutert Dr. Caterina Rohde Abuba. Auch Zwangsprostitution oder Zwangsheirat werden durch Not begünstigt.
In Deutschland setzt sich die prekäre Situation fort, wenn die Kinder auf längere Zeit ein unsicheres Aufenthaltsrecht haben, nicht frühzeitig in Schulen und Freizeitangebote integriert werden und sich mit vielen Menschen in Unterkünften ohne abschließbare Räume aufhalten. „Unsere Studie belegt erneut, dass die Gefahr der sexualisierten Gewalt nicht nur von Fremden ausgeht“, betont die Forschungsleiterin. In vielen Einrichtungen fehlen aber kindgerechte Beschwerdemöglichkeiten und mehrsprachige, kultursensible Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. „Auffällig ist: Männlichkeitsvorstellungen, gesellschaftliche Tabus und fehlende Hilfsangebote machen es für Jungen noch schwieriger über ihre Erfahrungen zu sprechen als für Mädchen.“ Kinder mit LGBTIQ-Identitäten seien ebenfalls in einer besonders schwierigen Lage, da sie bei einer Mitteilung über ihre Probleme Diskriminierung fürchten.
Angebote für Hilfen von Ort zu Ort unterschiedlich „Generell haben geflüchtete Kinder schlechteren Zugang zu Hilfen, um Taten zu melden oder erlebte Gewalt zu bewältigen als es bei in Deutschland aufgewachsenen Kindern der Fall ist, auch wenn die Situation meist besser ist als in vielen Herkunftsländern“, erklärt Dr. Caterina Rohde-Abuba. Die Angebote in Deutschland seien dennoch von Ort zu Ort sehr unterschiedlich gut und nicht gut vernetzt.
World Vision fordert von der Bundesregierung und von Organisationen, dass sie – auch angesichts der aktuell großen Fluchtbewegung aus der Ukraine - unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um ihren Schutzauftrag gemäß der Kinderrechtskonvention zu erfüllen.
In der Studie werden im Einzelnen folgende Maßnahmen empfohlen:
1. Auf der Grundlage bundeseinheitlicher Mindeststandards analysieren Einrichtungen die Risiken entwickeln rechtsverbindliche Gewaltschutzkonzepte. Diese sollten u.a. auch Beschwerdemechanismen enthalten, die gemeinsam mit Kindern erarbeitet werden.
2. Präventionsmaßnahmen und Therapieangebote werden fortlaufend finanziert und ausgebaut.
3. Die besonderen Gefährdungslagen im deutschen Asylsystem werden beseitigt. Förderlich hierfür sind eine dezentrale Unterbringung von Familien, eine gute Gesundheitsversorgung und die schnelle Aufnahme der Kinder in Bildungs- und Freizeitangebote aber auch bedarfsgerechte psychosoziale Unterstützung.
3. Asylverfahren für Minderjährige und ihre Familien werden beschleunigt.
4. Die Erhebung von repräsentativen Daten und Forschung zu sexualisierter Gewalt an Kindern ist unumgänglich.
5. Auf Bundesebene beaufsichtigt und fördert ein/e Kinderrechtsbeauftragte/r die Maßnahmen.