Wie sieht die Zukunft Afghanistans aus? „Jetzt gibt es ein Zeitfenster für politische Lösungen“, zeigte sich der Friedens- und Konfliktforscher Arvid Bell von der Harvard University in einer Web-Debatte überzeugt. Mit Misereor-Vorstandsmitglied Martin Bröckelmann-Simon, ZdK-Vizepräsidentin Karin Kortmann und Ellinor Zeino, Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul, diskutierte er am Mittwochabend die aktuelle Lage. Eingeladen hatten das Zentralkomitee der deutschen und Katholiken (ZdK) und die Katholische Akademie Dresden-Meißen. Mehr als 120 Interessierte hatten sich zugeschaltet.
Peter Frey, ZDF-Chefredakteur, Mitglied des ZdK und Moderator der Debatte, bekam auf seine Frage nach der Einschätzung der aktuellen Lage differenzierte Antworten. „In den ländlichen Regionen Afghanistans stößt das Angebot der Taliban durchaus auf fruchtbaren Boden. Damit kann man auch den begrenzten Widerstand erklären“, sagte Martin Bröckelmann-Simon, der selbst mehrfach in Afghanistan war. Misereor sei daran gelegen, die eigene Arbeit im Land fortzusetzen. Auch die Misereor-Partnerorganisationen formulierten mit Nachdruck, wie wichtig die Zusammenarbeit sei. Auf politischer Ebene müsse in jedem Fall mit den Taliban verhandelt werden: „Es führt kein Weg daran vorbei.“ Nur so könne man auf die Lage vor Ort Einfluss nehmen.
Ellinor Zeino bestätigte, dass es in ländlichen Regionen „Überschneidungen mit der Lebensrealität und den Werten der Taliban“ gebe. „Eine Herausforderung für die Taliban war immer die Stadtbevölkerung.“ Die Konrad-Adenauer-Stiftung versuche, die eigenen Mitarbeiter:innen aus Afghanistan herauszuholen, weil schwer einzuschätzen sei, wie sich die künftige Regierung ihnen gegenüber verhalte. „Die Nerven liegen blank“, sagte sie, „denn das Zeitfenster für eine Evakuierung schließt sich.“ Es gehe aber nicht nur um die Ortskräfte. In der öffentlichen Debatte werde aktuell allzu leicht vergessen, dass „die Hälfte der Bevölkerung hungert und verelendet“.
ZdK-Vizepräsidentin Karin Kortmann kritisierte, dass auf den von der vormaligen US-Regierung unter Trump angekündigten Abzug der Truppen aus Afghanistan nicht rechtzeitig reagiert worden sei. Regierungen des NATO-Bündnisses hätten die Vorbereitung auf diese Veränderung verschlafen, auch Deutschland habe keine adäquate Vorsorge getroffen. Das militärische Engagement in Afghanistan sei im Übrigen „nie evaluiert worden“. Sie betrachte es als gescheitert. Künftig müsse man sich auf zivile Unterstützung konzentrieren, nicht auf militärische: „Das führt zu nichts Gutem.“
Arvid Bell lieferte eine komplexe Analyse des Afghanistan-Desasters. Die Westmächte hätten immer im Zielkonflikt zwischen Staatsaufbau und Terrorismusbekämpfung gestanden. Die wechselvolle Zusammenarbeit mit Warlords habe das Misstrauen vieler Afghanen geschürt. Der völkerrechtswidrige Irakkrieg habe das Vertrauen in die USA für Afghanen endgültig unmöglich gemacht. Und schließlich habe der Trump-Taliban-Deal von Doha gezeigt, dass die demokratisch gewählte Regierung in Kabul keine Relevanz gehabt habe. Bell wagte einen Blick in die Zukunft: „Afghanistan lässt sich nicht zentralistisch regieren. Es wäre gut gewesen, ein dezentrales Staatssystem möglich zu machen. Vielleicht wird es jetzt entstehen.“
Aber unter welchen Bedingungen? Ellinor Zeino war sich mit Karin Kortmann darin einig, dass das westliche Konzept von „state building“ und „nation building“ gescheitert sei und auch nicht wieder auferstehen werde. Die Westmächte hätten sich allzu sehr „auf liberale Eliten gestützt“ und dabei die „religiös-konservative“ Mehrheit der Bevölkerung vergessen. Künftig müsse man diese in ihrem Entwicklungsprozess unterstützten. Sie sehe es als Erfolg an, wenn diese Mehrheit ein Afghanistan schaffe, in dem Gewalt eingedämmt und die Menschenrechte eingehalten würden. Man dürfe kein westliches Afghanistan zum Ziel haben.
Karin Kortmann plädierte in dieser Situation dafür, die Entwicklungshilfegelder nicht einzufrieren. „Das wäre die falsche Botschaft.“ Jetzt müssten humanitäre Korridore geschaffen werden und eine enge Abstimmung mit den Anrainerstaaten erfolgen, für deren Aufnahme geflüchteter Afghaninnen und Afghanen es dringend westliche Unterstützung brauche.
Arvid Bell warnte ebenfalls davor, Politik in dieser Situation ausschließlich als Evakuierungs-Politik zu verstehen. Jetzt sei politische Diplomatie gefragt. Da die Taliban nach internationaler Anerkennung strebten, könne und müsse man dafür Gegenleistungen verlangen. Leider fehle es an einer entsprechenden Koordination im Weltsicherheitsrat. Deutschland könne einen diplomatischen Vorstoß wagen, eine Abstimmung mit Russland und China sei in der Afghanistan-Frage nahezu unumgänglich. „Man muss jetzt alles rausholen, was diplomatisch geht.“
Martin Bröckelmann-Simon bestätigte das. Man werde nicht umhinkommen, „sich dabei vielleicht auch die Hände schmutzig zu machen“. Perfekte Lösungen seien nicht zu erwarten, aber Lösungen, die den Menschen vor Ort dienten. Wenn eine Organisation wie Misereor mit Partnerorganisationen vor Ort arbeite, brauche man eine politische Absicherung dieser Arbeit. Dazu gehörten Minimalkonsense, die zum Beispiel sicherstellten, dass Mädchen auch künftig Schulbildung erhalten könnten und ethnische Minderheiten in Krankenhäusern behandelt würden. Wenn so etwas nicht mehr möglich wäre, sei das für Misereor „eine rote Linie“.
Arvid Bell appellierte an die Zuhörerinnen und Zuhörer: „Bitte bleiben Sie an Afghanistan dran!“ Es sei möglich, die Zukunft zu gestalten. Dafür brauche es aber die bleibende Aufmerksamkeit der Welt. Afghanistan aus dem Blick zu verlieren, sei keine Option.