Auf die Frage, in welchem Verhältnis seine "Chants de l'Amour" zur Tradition des Liebesliedes stehen, antwortete Gérard Grisey in einem Werkkommentar: "Gibt es noch irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen der Maßlosigkeit von zwölf menschlichen Stimmen, die einer synthetischen Stimme aus dem Computer gegenübergestellt werden, und dem 'Liebeslied' eines Schubert oder Schumann? Obwohl der Neoromantizismus in Mode sein mag, habe ich doch alles Erklärende, alles subjektiv-anzügliche Anekdotische vermieden, ganz zu schweigen von den formalen Konzepten solcher Stücke." Auch wenn Grisey scheinbar übersehen hat, dass es bereits im 19. Jahrhundert Liebeslieder nicht nur für Singstimme und Klavier, sondern auch für mehrstimmigen Chor gab, lässt sich die ästhetische Haltung, die in dieser Antwort anklingt, schwerlich mit Ideen der Romantik in Verbindung bringen.
Am Konzertabend im ZKM werden noch zwei weitere Stücke präsentiert: Habeas Corpus − Anatomia Dell'Imaginazione E Visioni Dell'Assoluto von Valerio Murat und The Gates Of H. von Ludger Brümmer.
Gérard Grisey (1946-1998) ist Mitbegründer der spektralen Musik, die auf den Obertönen der Klänge beruht. Bereits 1963 erhielt er an der Städtischen Musikschule Trossingen Unterricht in Klavier und Harmonielehre sowie in Komposition bei Helmut Degen. Am Conservatoire national superieur de musique de Paris vertiefte er ab 1965 seine Studien und besuchte zwischen 1968 und 1972 u. a. die Kompositionsklasse von Olivier Messiaen. 1968 erhielt er weiterhin Kompositionsunterricht von Henri Dutilleux an der Ecole normale supérieure de musique und an der Accademia Chigiana in Siena. Nach Abschluss seiner Studien im Jahr 1972 besuchte er die Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt und erhielt dort Unterricht von Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und lannis Xenakis. Ab 1974/75 studierte er in Paris musikalische Akustik bei Emile Leipp an der Faculté de Sciences in Paris. Zwischen 1978 und 1982 hielt er Kurse in Komposition im Rahmen der Sommerkurse in Darmstadt und bei Musica nel nostro tempo in Mailand. 1980 kam er zur Forschungsgruppe des IRCAM. Ab September 1982 unterrichtete er als Dozent für Musiktheorie und Komposition an der Universität von Kalifornien in Berkeley. 1986 kehrte er nach Paris zurück und übernahm den Lehrstuhl für Komposition am Conservatoire in Paris.
Das Vokalensemble SCHOLA HEIDELBERG unter der Leitung von Walter Nußbaum schlägt seit seiner Gründung die Brücke zwischen Alter Musik und Neuer Vokalmusik. Die bis zu 16 Solisten des Ensembles beherrschen unterschiedlichste Stile und Vokaltechniken bis hin zu mikrotonaler Intonation, Stimm- und Atemgeräuschen und lassen - immer abseits des gängigen Repertoires - die Werke des 16./17. und des 20./21. Jahrhunderts einander befruchten. Aus dem intensiven Bezug historischer Aufführungspraxis und zeitgenössischer Musik entsteht so eine neue Interpretationskultur.
Klangregie führt: Roland Breitenfeld
Leitung SCHOLA HEIDELBERG: Walter Nußbaum