Die Dynamiken der modernen Demokratie begannen mit der dreiminütigen Gettysburger Rede von Präsident Abraham Lincoln 1863, die ein "government of the people, by the people, for the people" versprach. Mit dieser "Erfindung des Volkes" (Edmund S. Morgan, Inventing the People. The Rise of Popular Sovereignty in England and America, 1988) steht und fällt das Konzept der Demokratie. In der amerikanischen Declaration of Independence (1776) werden den Menschen unveräußerliche Rechte garantiert, darunter "life, liberty and the pursuit of happiness", vor allem aber, dass die Regierungen, welche diese Rechte sichern, ihre Macht nur mit der Zustimmung der Regierten erhalten (Governments [...] deriving their just powers from the consent of the governed).
Eine Demokratie lebt demzufolge von dieser Dynamik zwischen Regierung und Regierten, zwischen der Politik und dem Volk. Was aber geschieht, wenn diejenigen, die das Volk repräsentieren, die Rechte und Interessen des Volkes nicht mehr beschützen, sondern verletzen? Eine mögliche Antwort hat sich in den letzten Jahrzehnten mit der Gründung von NGOs, non-governmental organisations, gezeigt. Sie übernehmen Aufgaben wie Umweltschutz, Wahrung der Menschenrechte, usw., die ursprünglich von Regierungen wahrzunehmen wären. Eine zweite aktuelle Antwort sind die gegenwärtigen Aktivismuspraktiken, die von den BürgerInnen ausgehen, welche den Dynamiken einer demokratischen Bürgerschaft entspringen. Wie das Wort CIVIS (lat. Bürger) im Wort activism bereits zeigt, handelt es sich dabei um eine neue Form der "performativen Demokratie" (P. Weibel): durch Aktionen, Demonstrationen und Handlungen wird im öffentlichen Raum zur Veränderung bestehender Verhältnisse aufgefordert.
Durch Aktionen von Kleingruppen wie Pussy Riot oder Massenbewegungen wie Occupy u.v.a. sind in letzter Zeit wiederholt spektakuläre Protestbewegungen in den Fokus einer weltweiten Öffentlichkeit gerückt. Auf völlig verschiedene aber immer eindrucksvolle Weise zeigen sie, was im weitesten Sinn bürgerschaftliches Engagement bewirken kann. Denn einerseits wird von einer Krise der Demokratie, sogar von einer Postdemokratie, gesprochen. Andererseits jedoch vermehren sich überall auf der Welt vielfältige Bewegungen der Bürgerbeteiligung. Der Slogan der Boston Tea Party (1773), die 1775 zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges führte, war: "No taxation without representation". Die BürgerInnen von heute fordern scheinbar "no taxation without participation". global aCtIVISm rückt dieses neue Engagement der BürgerInnen in den Fokus einer Ausstellung. Diese ist dazu geeignet, dem Konformismus der so genannten Marktkunst wirksam zu begegnen aber ebenso dem Kulturpessimismus und seiner Klage über die Macht des Konsumerismus.
Mit den Ausstellungen Net_Condition (1999), CRTL [Space]. Rhetorik der Überwachung, von Bentham bis Big Brother (2001) und Making Things Public (2005) hat das ZKM schon früh auf die Optionen und Risiken der digitalen Gesellschaft hingewiesen. Ebenso präsentiert das ZKM seit Jahren Praktiken der künstlerischen Performance und der Partizipation des Publikums. Diese Praktiken sind nun offensichtlich in die Sphäre der Politik expandiert.
Kunst und Handlung gingen seit der Expansion der Künste Mitte der 1960er-Jahre eine neue Fusion ein, die sich aber aus der rein künstlerischen Intermedialität löste und sich immer mehr um soziale und humane Agenden kümmert. Art und Agency münden in einer neuen Form des Aktivismus. Die Künstlerfunktion wandelt sich vom Werkproduzenten zum Systemflüchtling oder Systemkritiker, der Aufgaben nachgehen kann, die bisher den staatlichen Instanzen, der Justiz, der Ökonomie, der Verwaltung oblagen. Die Kunst bildet gewissermaßen ähnlich wie die Philosophie und die Medientheorie das Exil, in dem grundlegende zivile Aufgaben noch wahrgenommen werden. Mit der Funktion des Künstlers ändern sich auch seine Medien: Statt Ölgemälden entstehen Flugblätter, Plakate, Graffiti, an die Stelle von Holzskulpturen treten Onlineportale; Transparente, Medienauftritte und Youtube-Videos lösen Kunstfilmproduktionen ab.
Die Ausstellung wird mithilfe von Fotos, Filmen, Videos, Blogs, den sozialen Medien und weiteren massenmedialen Dokumenten den globalen Aktivismus bzw. Artivismus als die erste neue Kunstform des 21. Jahrhunderts zeigen.
Projektteam: Peter Weibel und Andreas Beitin, Andrea Buddensieg, Dietrich Heissenbüttel, Sabiha Keyif, Elisabeth Klotz, Sarah Maske, Linnea Semmerling, Joulia Strauss, Tatiana Volkova, Philipp Ziegler
ANNEX
Seit mehr als 20 Jahren erleben wir weltweit eine zunehmende Verflechtung von Politik, Wirtschaft, Kommunikation, Wissenschaft und letztlich auch Kultur. Diese Phänomene, die man unter dem vielzitierten Begriff der Globalisierung zusammenfassen kann, sind eng mit einer technologischen Entwicklung verbunden, die einerseits zu dem führte, was Marshall McLuhan bereits 1968 als Global Village bezeichnet hat, und andererseits eine globale wirtschaftliche und politische Entwicklung beförderte, die weltweit Anstoß zu punktuellen Protesten bildet. Die neue Dialektik von lokal und global bildet weniger das Gesicht eines Global Village aus, sondern eher das Profil der Macht globaler Verflechtungen von Firmen und Banken, von Finanztransaktionen und Offshore- Gesellschaften, einer neuen oligarchischen Elite, welche die Funktion politischer und ziviler Institutionen ebenso bedroht wie die Rechte der Individuen. Deswegen kommt es immer mehr zu neuen Protestformen der Empörten und Indignados, die sich aus der erlebten Ohnmacht der Individuen speisen. Diese neue Form spontaner nichtinstitutioneller Massenproteste von Individuen ist ein weltweit unübersehbares Phänomen und hat gerade im Arabischen Frühling gezeigt, wie etablierte Machtsysteme, z. B. die wechselseitige Unterstützung von arabischen Diktaturen und westlichen Demokratien, von wirtschaftlichen und militärischen Interessen - zumindest für einen kurzen Moment der Geschichte - unterbrochen werden können. Wie die Zukunft dieser muslimisch geprägten Länder aussehen wird, ist ungewiss. Aber eines ist nicht zu leugnen: Es haben, unterstützt durch neue Kommunikationsmedien, gesellschaftliche Umbrüche stattgefunden, die zeigen, in welchem Ausmaß sich Gräben zwischen traditionellen Gesellschaftsund Generationsverträgen auftun können, sodass es zu bisher ungekannten sozialen Spannungen kommt, die Gewalt auslösen. Der Gewaltpegel steigt hierbei nicht nur in den arabischen und asiatischen Ländern, sondern auch im Inneren des Westens selbst. Von USA bis Schweden, von Frankreich bis England kommt es immer wieder zu individuellen Gewaltausbrüchen von Jugendlichen und Erwachsenen mitten in der Zivilgesellschaft, für die es bisher keine überzeugenden Erklärungen gibt. Unsere Gesellschaft versperrt offensichtlich die historischen Fluchtmöglichkeiten (escape buttons). So entsteht eine vermeintliche Ausweglosigkeit, aus der scheinbar nur Gewalt einen Ausweg schafft.
NGOs (non-governmental organisations), die von Individuen getragen werden - also eine Form der Kooperation zwischen Individuen und Institutionen außerhalb staatlicher Instanzen - haben in den letzten Jahrzehnten eine wichtige bahnbrechende und vorbereitende Rolle für den globalen Aktivismus gespielt. Man denke an die weltweit aufsehenerregenden Aktionen und Bilder von Greenpeace, Amnesty International und Tierschutzvereinigungen. Offensichtlich haben große gesellschaftliche Gruppen nicht den Eindruck gehabt, dass der Staat selbst ausreichend die Rechte aller Bürger, die Menschenwürde, den notwendigen Klimaschutz und die Rechte von Tieren schützt, sondern im Gegenteil sie verletzt. Daher haben sie neue Organisationsformen gefunden, um diese Lücke zu füllen und um in der Öffentlichkeit für ihre Anliegen Gehör zu finden. Proteste gegen den Atomstaat und gegen die Verschmutzung der Erdatmosphäre sind von Bürgerbewegungen ausgegangen und nicht von staatlichen Organisationen und haben gewisse Erfolge erreicht bzw. sogar zu neuen Parteigründungen geführt. Nach der global city (Saskia Sassen, The Global City, 1991) und der global governance (Brundtland- Bericht, 1987) entsteht eine neue Form gesellschaftlichen Handelns, eine performative Demokratie, in deren Mittelpunkt der global citizen steht. Dieser neue Bürgertyp kümmert sich um lokale (z.B. Bahnhofsbauten) genauso wie globale (z.B. Klimaschutz) Probleme. Lebenswichtige Interessen der gesamten Menschheit, die einzelne Nationalstaaten nicht berücksichtigen, werden von den globalen Bürgern wahrgenommen. Die traditionellen Grenzlinien zwischen Individuum und Institution, Subjekt und System werden durch den neuen Aktivismus immer mehr verschoben, aufgelöst und umkämpft. Öffentliche Massen-Manifestationen, vom Puerta del Sol in Madrid, Tahrir-Platz in Kairo, Platz des himmlischen Friedens Tian'anmen-Platz in Peking und dem Taksim-Platz in Istanbul, die sich massenmedial wie ein Virus in den neuen Onlinemedien verbreiten, liefern Beispiele nicht für die Macht der Massen, sondern für die Macht der vernetzen Kommunikation und Kooperation der ansonsten ohnmächtigen Individuen. Historische Massenaufmärsche waren - mit Ausnahme von revolutionären Situationen - von oben organisiert und initiiert. Der zivile Massenprotest heute wird von unten organisiert und initiiert, z. B. Stuttgart21. Der globale Aktivismus als Bewegung des 21. Jahrhunderts liefert erste Anzeichen gegen allen Kulturpessimismus, dass anstelle des popkulturellen Massenkonsums auf paradoxe Weise eine systemkritische Massenkultur entstehen kann.