- Bei der Novelle von § 1 TierSchG geht es darum, was unserer Gesellschaft wichtiger ist: Profite der Tierhaltung oder grundlegender Tierschutz.
- Der Tierschutzsektor fordert Cem Özdemir auf, für die längst überfällige Konkretisierung von § 1 TierSchG zu kämpfen.
Der Gesetzgeber wies bei Erlass des Gesetzes im Jahr 1972 lediglich darauf hin, dass die Nutzung von Tieren zu Nahrungszwecken einen solch “vernünftigen Grund” darstellen könne. Ob aber die Profitmaximierung eines Unternehmens Tierleid rechtfertigt, wurde im Grundsatz nicht explizit klargestellt. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs liegt damit bei den Gerichten.
Die Gretchenfrage im politischen und rechtlichen Tierschutz lautet seitdem, was wichtiger wiegt, der Profit eines Unternehmens oder die Ansprüche von Tieren.
Mit höchstrichterlicher Rechtsprechung stellte 2019 auch das Bundesverwaltungsgericht zum systematischen Töten männlicher Küken fest: allein wirtschaftliche Gründe sind nicht ausreichend, um die Tötung von Tieren oder die Zufügung von Schmerzen oder Leiden zu rechtfertigen.
Streit um den Zusatz in § 1
Ende Mai 2023 wurde vom BMEL der Referentenentwurf zur Änderung des TierSchG veröffentlicht. Er sah in § 1 vor, dass bei der “Abwägung schutzwürdiger menschlicher Interessen mit dem Tierschutz wirtschaftliches Interesse keinen vernünftigen Grund für eine Beeinträchtigung von Leben und Wohlbefinden eines Tieres" darstellen solle. Anfang Juni wurde dieser Passus in der Ressortabstimmung überraschend gekippt. Noch weiß niemand, wer sich aus welchen Gründen für die Streichung des Passus eingesetzt hat. Es wird vermutet, dass sich das von der FDP geführte Justizministerium für eine Streichung stark gemacht hat. Viele Tierschutzorganisationen, darunter der Deutsche Tierschutzbund und Animal Society e.V., kritisieren diesen Vorgang und fordern Cem Özdemir und sein Ressort auf, sich für eine Beibehaltung der Konkretisierung einzusetzen.
Deutscher Bauernverband: “äußerst bedenklich”
Während sich von den Parteien bislang noch niemand offen dazu bekennt, gegen die Konkretisierung im Grundsatz zu opponieren, steht auf Seiten der Lobbyist*innen ein Hauptkritiker fest: Der Deutsche Bauernverband (DBV), der die Interessen meist konventioneller großer Tierhaltungsbetriebe vertritt, findet die Klarstellung in § 1 “äußerst bedenklich”. Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Bauernverbands, kritisiert, dass die neue Formulierung das Ende der landwirtschaftlichen Tierhaltung bedeuten könne. Zum Erhalt der landwirtschaftlichen Tierhaltung in Deutschland müssten wirtschaftliche Interessen von Agrarunternehmen die Zufügung von Tierleid rechtfertigen, so Krüsken weiter. Der DBV schlägt allerdings keine alternative Konkretisierung vor, sondern möchte den aktuellen unbestimmten Rechtsbegriff des “vernünftigen Grundes” beibehalten.
Beurteilung von Animal Society und DJGT
Wer sich gegen die Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffes ausspricht, und keine Alternative liefert, hat offenbar wirtschaftliche Interessen an einem für die Öffentlichkeit undurchsichtigen rechtlichen Grundsatz.
Dazu Dr. Philipp von Gall, wissenschaftlicher Berater bei Animal Society: “Der Bauernverband kritisiert die geplante rechtliche Konkretisierung des ‘vernünftigen Grundes’ dafür, unscharf zu sein. Das ist perfide, denn er schlägt keine Alternative vor, setzt sich also indirekt für den aktuellen, unscharf formulierten Grundsatz ein. Der Wunsch eines Unternehmens, seine Profite zu maximieren, kann kein Tierleid rechtfertigen. Das verdeutlichte der erste Referentenentwurf des BMEL. Es wird klar: Was Herr Krüsken mit seiner Absage an die Konkretisierung eigentlich möchte, ist ein stilles Bekenntnis der Politik, dass Profite im Zweifelsfall den Tierschutz ausstechen können. Das ist aber weder im Sinne des Staatsziels Tierschutz, noch im Sinne der Bürgerinnen und Bürger.”
Dr. Barbara Felde, Richterin und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht (DJGT) ergänzt: “Der ursprünglich geplante § 1 Satz 3 setzt das um, was die höchsten Bundesgerichte wie Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht bereits seit langem sagen. Mit dem Verhalten des Bauernverbandes wird jede zuweilen von Landwirten getätigte Aussage, einem Landwirt sei das Wohl seiner Tiere wichtig, unglaubhaft.”
Animal Society sieht im aktuellen Streit um § 1 die Chance, die zentralen Grundsätze der Tierschutzpolitik an die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 50 Jahre anzupassen. Dazu gehört ein ethisches Augenmaß, mit dem wenigstens menschliche und tierische Mindestansprüche rechtlich miteinander abgewogen werden. Diese Abwägung benötigt weiterhin eine angemessene politische Vertretung von Tieren. Heute übernehmen zivilgesellschaftliche Tierschutzorganisationen diese Aufgabe weitgehend, sie können sich aber gegen starke Lobbys oft nicht durchsetzen. Auch deshalb ist die geplante Gesetzesnovellierung so wichtig.