Daher muss es befremden, dass die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 14. März 2011 öffentlich erklärt hat: "Wir (werden) die erst kürzlich beschlossene Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aussetzen. Dies ist ein Moratorium. Dieses Moratorium gilt für drei Monate." Offenbar sind der Bundesregierung dann selbst Zweifel an der rechtlichen Zulässigkeit einer derartigen "Aussetzung" gekommen. Jedenfalls spricht hierfür der Kurswechsel, der wenige Tage später dadurch vollzogen wurde, dass stattdessen - gerichtet an die Länder - die Devise ausgegeben wurde, durch Erlass entsprechender Anordnungen den Betrieb der sieben ältesten Kernkraftwerke in Deutschland einstweilen einzustellen. Ich meine, über den Vorgang darf nicht kommentarlos hinweggegangen werden. Dies umso mehr, als es sich nicht um einen Ausrutscher handelt. Erinnert sei nur an die contra legem erfolgte Aussetzung der Wehrpflicht vor Erlass einer hierzu ermächtigenden Änderung des Wehrpflichtgesetzes. Oder daran, dass sich die CDU/CSU und FDP schon vor der Regierungsbildung ausdrücklich auf eine Nichtanwendung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommunikationsnetzen verständigt hatten. Hierzu ist in der Koalitionsvereinbarung festgehalten: "Wir sind uns darüber einig, dass es notwendig ist, derartige kriminelle Angebote schnellstmöglich zu löschen statt diese zu sperren. Wir werden daher zunächst für ein Jahr kinderpornografische Inhalte auf der Grundlage des Zugangserschwerungsgesetzes nicht sperren. Stattdessen werden die Polizeibehörden in enger Zusammenarbeit mit den Selbstregulierungskräften der Internetwirtschaft... die Löschung kinderpornografischer Seiten betreiben. Nach einem Jahr werden wir dies im Hinblick auf Erfolg und Wirksamkeit evaluieren und aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse ergebnisoffen eine Neubewertung vornehmen."
Auch wenn Löschen die vorzugswürdigere Variante gegenüber Sperren sein sollte, würde dies eine Regierung nicht dazu berechtigen, einseitig die Anwendung eines vomParlament beschlossenen, vom Bundespräsidenten ausgefertigten und im Bundesgesetzblatt verkündeten Gesetzes auszusetzen. Wenn sie gleichwohl so verfährt, stellt dies kein Kavaliersdelikt, sondern eine vorsätzliche Verletzung der den Mitgliedern der Bundesregierung obliegenden und mit dem Amtseid bekräftigten Pflichten zur Einhaltung von Recht und Gesetz dar. Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert hat ein solches Vorgehen daher völlig zu Recht als "grob rechts- und verfassungswidrig" kritisiert.
Machen derartige Beispiele Schule, drohen nicht nur langfristig die staatlichen Gewalten aus der für einen Rechtsstaat unverzichtbaren Balance zu geraten. Vielmehr wird auch dem "einfachen Bürger" kaum klarzumachen sein, warum er ihm wenig sinnvoll erscheinende Gesetze beachten soll, während die Damen und Herren Regierungsmitglieder da auch schon mal fünf gerade sein lassen, wenn sie denn meinen, dass ihre Ideen besser sind, als das, was Bundestag und Bundesrat beschlossen haben.
Montesquieu, einer der Begründer des Prinzips der Gewaltenteilung, hat schon gesagt: "Alles wäre verloren, wenn ein- und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft sei es der Fürsten, der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen." Dem ist nichts hinzuzufügen. Als dem Recht verpflichteter Beruf muss die Anwaltschaft ihre Stimme erheben und jeder weiteren Erodierung des rechtstaatlich-fundamentalen Prinzips der Gewaltenteilung unüberhörbar entgegentreten!