Der EU-Sozialgipfel findet traditionell anlässlich des Welttags zur Überwindung großer Armut am 17. Oktober entweder in Brüssel oder im Land der turnusmäßigen Ratspräsidentschaft statt. Dass die Staats- und Regierungschefs diesmal jedoch davon abwichen und sich ausgerechnet in Schweden trafen, sah für viele Beobachter aus wie ein subtiles Wahlkampf-Geschenk der EU an den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven. Er muss in einem Jahr die Parlamentswahlen gewinnen und die oppositionellen „Schwedendemokraten“ im Sveriges riksdag möglichst kleinhalten. Von beiden Zielen ist er weit entfernt. Seiner rot-grünen Minderheitsregierung in Stockholm mangelt es nicht an Skandalen, aufgrund der unübersichtlichen Mehrheiten fehlen echte Gestaltungsoptionen. Schweden versinkt in den Problemen der illegalen Einwanderung. Die naive Willkommenspolitik der bürgerlichen Parteien hinterlässt bereits tiefe Spuren in Schweden und verändert das Land nachhaltig. Die Polizei verzeichnete in diesem Jahr bereits sechzig Gebiete mit besonders kriminellen Strukturen rund um Stockholm, Göteborg und Malmö. Um die Brisanz des täglichen Einzelfalls totzuschweigen, verhängte die rot-grüne Regierung kurzerhand de facto eine Informationssperre. Seitdem kann nur sehr restriktiv über Straftaten von Flüchtlingen und Asylbewerbern öffentlich berichtet werden. Doch das verbessert keineswegs die Situation vor Ort. Darüber hinaus funktioniert Löfvens Minderheitsregierung nur aufgrund einer Absprache zwischen den etablierten Parteien vom Dezember 2014, deren einziges Ziel es ist, die „Schwedendemokraten“ zu isolieren. Sie sitzen im EU-Parlament gemeinsam mit der AfD in der Fraktion der Freiheit und Direkten Demokratie von Nigel Farage. Löfvens Problem - und Brüssels Angst - ist allerdings, dass die Schweden den künstlichen „cordon sanitaire“ und die Vogel-Strauß-Haltung der bürgerlichen Parteien immer weniger akzeptieren. Die „Schwedendemokraten“ führen derzeit alle Umfragen an. Fast ein Viertel aller Wahlberechtigten will im September 2018 für diese Reformpartei stimmen. Das entspricht einer Verdoppelung ihrer Stimmen gegenüber den Parlamentswahlen 2014 und bedeutet Stimmengleichheit mit den Christdemokraten.
Zur Bekämpfung von Populismus eignet sich die „europäische Säule sozialer Rechte“ gleichwohl nicht. Vermutlich wird eher das Gegenteil eintreten, schaut man sich die Details an. Der Text ist ein Copy Pasting für gutes Gewissen, er liest sich wie jene Entschließungs-Wunschlisten, die man im Frauenausschuss des EU-Parlaments gewöhnlich zu verhindern sucht. Die zwanzig Rechte und Ansprüche sind in drei Kapitel aufgeteilt: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen, sowie Sozialschutz und soziale Inklusion. Bahnbrechende Formulierungen finden sich in den drei Kapiteln nicht, denn die hier zusammenkopierten Grundsätze finden sich bereits in der einen oder anderen Formulierung in den Konventionen der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen, in den Instrumenten des Europarats sowie im gemeinschaftsrechtlichen Besitzstand der EU. Außerdem ist die jüngste Erklärung ausdrücklich nicht rechtlich bindend. Sie ist nicht Bestandteil des Vertrags, die sozialen Rechte können nirgendwo eingeklagt werden.
Es findet sich beispielsweise die „Jugendgarantie“ wieder, obwohl alle Beteiligten wissen, dass Europas Jugend hier nur etwas vorgegaukelt wird. Die Jugendgarantie wurde 2013 durch die EU eingeführt, um zu garantieren, dass alle Jugendlichen unter 25 Jahren innerhalb von vier Monaten nach Schulabschluss oder Ende des Arbeitsvertrags effektiv ein Angebot für eine Weiterbildung, ein Praktikum oder eine Ausbildungsstelle erhalten. So funktionierte das auch in der DDR-Planwirtschaft. Brüssel stellt dafür bis 2020 insgesamt 6,4 Milliarden Euro bereit. Jedoch erfüllt keiner der besonders betroffenen Staaten die Erwartungen. Der EU-Rechnungshof kritisierte sogar in einem Sonderbericht: "Die politischen Entscheidungsträger sollten dafür sorgen, dass mit den Programmen zur Unterstützung junger Menschen keine Erwartungen geweckt werden, die nicht erfüllt werden können." Obwohl sich die Entscheider von heute an die gescheiterte Planwirtschaft im einstmals kommunistisch regierten Mittel- und Osteuropa erinnern sollten, und obwohl die Jugendgarantie keineswegs von Erfolg gekrönt ist wie selbst der Rechnungshof moniert, schreiben sie diese erfolglose Politik nun in den Katalog der sozialen Rechte ein. Populismus bekämpfen sieht anders aus.
Die „europäische Säule sozialer Rechte“ verkörpert ziemlich authentisch ein Grundanliegen von Anhängern eines zentralistischen EU-Staates, nämlich die Abgabe nationaler Zuständigkeiten an die europäische Ebene „durch konkrete Tatsachen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“ (Schuman Erklärung). Es geht also darum, Stück für Stück in Brüssel Fakten zu schaffen, von denen die einzelnen Mitgliedsstaaten später schlecht zurücktreten können. Die jetzt proklamierte europäische Säule sozialer Rechte sollte im Sinne von EU-Kommissionspräsident Juncker als weiterer Mosaikstein der Europäisierung der nationalen Sozialpolitik verstanden werden: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." (zitiert im Artikel „Die Brüsseler Republik“, Der Spiegel, 27. Dezember 1999). Diese Methode ist nicht unbedingt von Vorteil. Wer Europäisierung sagt, meint im Sozialbereich einen für die ausgeprägten Sozialstaaten nivellierenden Kompromiss. Deswegen würde es Deutschland nicht zum Vorteil gereichen, wenn die EU das letzte Wort in der nationalen Sozialpolitik bekommt. Dafür ist die EU viel zu unterschiedlich, wenn auch „in Vielfalt geeint“.
Wie immer, die europäische Sozialpolitik zeigte in Göteburg einmal mehr, wofür sie den Machern in Brüssel dient: Als Instrument für die Vereinheitlichung und für die Abwehr unliebsamer Volksversteher, vulgo Populisten. Das dürfte 2018 nicht einfacher werden als 2017.