In seinem am 27. September 2016 veröffentlichten Abschlussbericht kommt das Institut zu dem Ergebnis, dass Nutzen und Schaden dieses Screenings mangels aussagekräftiger Studien unklar bleiben. Unnötige Behandlungen scheinen von dem Screening aber nicht zu befürchten zu sein, da positive Testbefunde durch eine anschließende Genanalyse abgeklärt werden können.
Unbehandelt drohen schwere Schäden an Leber und Niere
Tyrosin ist eine Aminosäure, die in Proteinen der Nahrung vorkommt. Bei der Tyrosinämie Typ I führt eine Genmutation zu einer Fehlfunktion eines Enzyms, das zum Abbau von Tyrosin beiträgt. Dadurch entstehen toxische Stoffwechselprodukte, die Organe wie Leber, Niere, aber auch Gehirn und Nerven schwer schädigen können. Derzeit wird Tyrosinämie Typ I regelhaft mit Medikamenten (NTBC, Nitisinon) und proteinarmer Diät therapiert. Fachleute gehen davon aus, dass eine möglichst frühe Behandlung die Chancen erhöht, Schäden zu vermeiden.
Tyrosinämie Typ I noch nicht im Routine-Testprogramm
In Deutschland wird das sogenannte erweiterte Neugeborenen-Screening durchgeführt. Die Teilnahme an diesen Untersuchungen ist freiwillig. Ziel ist es, frühzeitig Krankheiten zu erkennen, die die körperliche oder geistige Entwicklung gefährden könnten. Welche Krankheiten dies sind und welche Tests angewendet werden sollen, wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in den sogenannten Kinder-Richtlinien festgelegt. Die Tyrosinämie Typ I ist dort noch nicht verankert.
Der G-BA hatte nun das IQWiG beauftragt, Nutzen und Schaden eines Screenings von Neugeborenen auf Tyrosinämie Typ I zu bewerten, bei dem die Tandem-Massenspektrometrie (MS/MS) angewendet wird. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, mit dem unter anderem getrocknetes Blut analysiert wird.
Auch Studien niedriger Evidenzstufen recherchiert
Die Aussagesicherheit von Kohortenstudien ist wesentlich geringer als bei randomisierten kontrollierten Studien (RCT), ihre Ergebnisse sind also weniger belastbar. Dennoch suchte das IQWiG nicht nur nach RCT, sondern auch nach vergleichenden Kohortenstudien, auch nach solchen, die retrospektive oder historische Vergleiche anstellten. Denn aufgrund der Seltenheit der Erkrankung war zu erwarten, dass es nur relativ wenige Studiendaten geben würde. An Tyrosinämie Typ I erkrankt weltweit nur etwa eines von 100 000 Kindern. In Deutschland wurden 2013 insgesamt 25 Kinder in Kliniken behandelt.
Studien verglichen früheren mit späterem Therapiebeginn
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden keine Studie, in der gesundheitliche Vor- und Nachteile bei einer Gruppe mit Screening mit einer Gruppe ohne Screening verglichen wurden.
Sie identifizierten aber einige wenige Interventionsstudien, die einen früheren mit einem späteren Therapiebeginn verglichen und dabei patientenrelevante Endpunkte wie etwa Sterblichkeit, Leberversagen oder Klinikaufenthalte berichteten. In die Bewertung einbeziehen konnte das IQWiG auch eine Studie zur diagnostischen Güte, bei der positive Testergebnisse der Tandem-Massenspektrometrie durch eine anschließende Genanalyse überprüft wurden.
Keine dramatischen Effekte
Aufgrund ihres Designs hätten Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen sehr groß sein müssen, um daraus einen Vor- oder Nachteil des Screenings ableiten zu können. Gibt es einen „dramatischen Effekt“, lassen sich Nutzen oder Schaden medizinischer Interventionen auch mit Nicht-RCTs belegen.
Dies war jedoch bei keiner der einbezogenen Studien der Fall, denn die gemessenen Unterschiede waren nicht ausreichend groß. Aus diesen Studien ließ sich nicht sicher erkennen, dass eine Behandlung, die erst bei Auftreten erster Symptome beginnt, häufiger zu schweren Schäden bei den betroffenen Kindern führt.
Die Studie zur diagnostischen Güte war ebenfalls nur eingeschränkt belastbar, da unter anderem Angaben zur Auswahl der Patienten und zum zeitlichen Ablauf fehlten.
Möglicher Schaden ist begrenzt
Somit fehlen geeignete Daten, um Nutzen und Schaden von einem früheren gegenüber einem späteren Therapiebeginn abwägen oder die diagnostische Güte des Tests bewerten zu können. Da sich positive Testbefunde durch eine anschließende Genanalyse abklären ließen, wären unnötige Behandlungen durch das Screening eher nicht zu befürchten. Einen möglichen Schaden hätten höchstens die Eltern: Sie sind in der Zwischenzeit psychisch stark belastet, auch wenn der Gentest am Ende „Entwarnung“ gibt.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Die vorläufigen Ergebnisse, den sogenannten Vorbericht, hatte das IQWiG im Juni 2016 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Nach dem Ende des Stellungnahmeverfahrens wurde der Vorbericht überarbeitet und als Abschlussbericht im August 2016 an den Auftraggeber versandt. Die eingereichte schriftliche Stellungnahme wird in einem eigenen Dokument zeitgleich mit dem Abschlussbericht publiziert. Der Bericht wurde gemeinsam mit externen Sachverständigen erstellt.